Stakeholder Governance und Verteilungsgerechtigkeit

Günter Müller-Stewens, Ordentlicher Professor em. für Betriebswirtschaft, Universität St. Gallen

Überall erfahren wir dieser Tage, dass Führungskräfte nicht nur die Bedürfnisse der Eigentümerinnen und Eigentümer zu befriedigen haben, sondern auch die der anderen Stakeholder. Selbst der mächtige «Business Roundtable», eine Vereinigung der wichtigsten CEOs in den USA, hat dies im August 2019 seinen Mitgliedern neu nahegelegt: «Jede unserer Anspruchsgruppen ist von wesentlicher Bedeutung. Wir verpflichten uns, für alle von ihnen Wert zu schaffen,…» Doch die, die dies ernsthaft versuchen umzusetzen, werden schnell bemerken, dass uns eine Antwort auf eine zentrale Frage fehlt: Wie gelangen wir zu einer ausbalancierten Verteilung der Wertschöpfung auf diese Stakeholder?

Der Ansatz eines Stakeholder Management ist alles andere als neu und geht auf Ed Freemann (1984) und sein Buch „Strategic Management. A Stakeholder Approach” zurück. Doch erst jetzt scheint die Bedeutung des Ansatzes so richtig wahrgenommen zu werden: „Das 21. Jahrhundert scheint das Jahrhundert der Stakeholder-orientierten Unternehmen zu werden, …“ heisst es 2020(3) im Editorial der Academy of Management Review.

Wertschöpfung findet heutzutage immer vernetzter statt. Dies betrifft insbesondere die Vernetzung eines Unternehmens mit seinen Stakeholdern. So erwächst die Entwicklung eines neuen Produktes oft aus einer engen Kooperation mit Schlüsselkundinnen und -Kunden. Doch wo es zu einer gemeinsamen Wertschöpfung kommt, steht schnell die Frage nach deren fairer Verteilung im Raum. Wer soll wann wieviel davon bekommen? Es geht aber auch um die Verteilung von Lasten, die z.B. mit der Bewältigung des Klimawandels einhergehen. Wieviel davon sollen Staat, Unternehmen oder Privatpersonen tragen? Was ist hier fair? Gelingt es uns nicht, eine angemessene Balance zu finden, kommt es zu Spannungen bis hin zur Trennung. Schnell wird dabei klar, dass wir es hier nicht nur mit ökonomischen, sondern auch mit philosophischen und ethischen Fragen - z.B. zu Gerechtigkeit - zu tun haben.

Führungskräfte müssen heute in der Lage sein, Wege zu finden, wie sie mit dieser wachsenden Vielfalt von Erwartungen zurechtkommen. Gegenüber jedem der Stakeholder gilt es unterschiedlich definierte Formen von Verantwortung wahrzunehmen. Dabei müssen sie Lösungen für die Anliegen ihrer Stakeholder finden, in dem sie sich in einer authentischen Form mit ihnen auf Diskurse einlassen.

Natürlich wurden schon immer solche Verteilungsentscheide durch Topmanagementteams getroffen. Gerade aktuell holt sich manch ein Konzern zur Legitimierung deutlich erhöhter Investitionen in den Klimaschutz damit verbunden das Einverständnis der Eigentümerinnen und Eigentümer für eine zurückhaltende Dividendenpolitik ein. Doch wie ein solches Abwägen konkret geschieht ist meist intransparent, empirisch wissen wir zu solchen Verteilungsmechanismen fast nichts und es gibt auch keine Theorie dazu. Doch inzwischen gibt es bereits Gerichte, bedenkt man z.B. das Urteil gegen Royal Dutch Shell, die in die Verteilungsstrategien privater Unternehmen intervenieren. Es ist also an der Zeit, dass die Betriebswirtschaftslehre sich dieser äußerst wichtigen Fragestellung annimmt.

Hieraus ergeben sich eine ganze Reihe spannender Forschungsfragen wie z.B.:  Betrachtet das Management bei der Entscheidungsfindung das Netzwerk aller Stakeholder gleichzeitig oder geht man Stakeholder für Stakeholder vor? Gibt es Leitgrößen, auf die hin Verteilungsentscheide optimiert werden, wie z.B. Fairness, Gerechtigkeit oder politische Akzeptanz? Welche Rolle spielen im Entscheidungsprozess neben ökonomischen und rechtlichen Argumentationen auch ethische Aspekte? Usw.